Koalitionsvertrag enttäusch bei Tierversuchen
Mit Spannung und großer Hoffnung
erwartet, mündete die Sichtung des Koalitionsvertrags der Ampel-Koalition in
eine Enttäuschung: nachdem Grüne und SPD in ihren Wahlprogrammen gelungene
Statements zum Thema Tierversuche hatten, ist nun ein Ausstieg kein Thema mehr.
Lediglich die Reduktion wird angestrebt – das aber ist ein seit Jahren
angestrebter Plan, der ebenso lange schon nicht aufgeht.

Was sagt der Koalitionsvertrag zum Thema Tierversuche?
Während in einigen Tierschutzbereichen Verbesserungen geplant sind, bleibt der Koalitionsvertrag beim Thema Tierversuche ambitionslos: „Wir legen eine Reduktionsstrategie zu Tierversuchen vor. Wir verstärken die Forschung zu Alternativen, ihre Umsetzung in die Praxis und etablieren ein ressortübergreifendes Kompetenznetzwerk.“ Lediglich diese zwei überschaubaren und wenig konkreten Sätze auf Seite 44 des Ende November vorgelegten Koalitionsvertrags von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP finden sich in dem insgesamt 178 Seiten starken Entwurf.
Was versprachen die Ampel-Parteien vor der Wahl?
Vor nicht allzu langer Zeit sah die Lage noch ganz anders aus: in den für die Bundestagswahl im September vorgelegten Wahlprogrammen von u.a. SPD und den Grünen war ein Ausstiegskonzept aus dem Tierversuch vorgesehen. Darüber hinaus haben wir an die Parteien Wahlprüfsteine versendet mit der zentralen Frage, ob das jeweilige Wahlprogramm einen Ausstiegsplan aus dem Tierversuch vorsieht.
In dem Wahlprogramm der SPD stand: „Für den perspektivischen Ausstieg aus den Tierversuchen werden wir eine Gesamtplanung aufsetzen und die Entwicklung von tierversuchsfreien Verfahren stärker fördern.“
Auf den
Wahlprüfstein mit der Frage nach einem Ausstiegsplan erhielten wir folgende
Antwort: „Unsere Vision ist eine Gesellschaft, in der der Fortschritt nicht auf
dem Leid von Lebewesen basiert. Wir Sozialdemokrat:innen wollen daher
Tierversuche durch innovativste wissenschaftliche Alternativverfahren ersetzen
und somit den Wissenschaftsstandort Deutschland nachhaltig stärken. In unserem
Zukunftsprogramm (…) sprechen wir uns daher für die Aufsetzung einer
Gesamtplanung aus, die Wege für einen perspektivischen Ausstieg aus
Tierversuchen aufzeigt. Zugleich wollen wir die Entwicklung von
tierversuchsfreien Verfahren noch stärker fördern. Bereits auf den Weg gebracht
haben wir den Aufbau einer nationalen Translationsplattform für
tierversuchsfreie Alternativmethoden. Diese soll in naher Zukunft dabei helfen, Tierversuche dort zu
ersetzen, wo dies möglich ist und tierversuchsfreie Alternativmethoden
weiterentwickeln.“
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte das Thema in ihrem Wahlprogramm noch etwas detaillierter aufgeführt: „Wir streben die weitere konsequente Reduktion von Tierversuchen in der Wissenschaft an und wollen sie mit einer klaren Ausstiegsstrategie und innovativen Forschungsmethoden schnellstmöglich ersetzen. Dafür arbeiten wir mit allen beteiligten Akteur*innen an einer zukunftsorientierten tierfreien Forschung, fördern Investitionen in tierfreie Innovationen sowie die Weiterentwicklung von verbesserten Medikamenten- und Sicherheitsprüfungen und beschleunigen die Zulassung tierversuchsfreier Verfahren. Die EU-Vorgaben für Tierversuche werden wir endlich in deutsches Recht umsetzen.“
In der Antwort auf unsere Wahlprüfsteine heißt es darüber hinaus: „Wir GRÜNE wollen den Einstieg in einen Ausstieg aus Tierversuchen einleiten, die ja nicht von heute auf morgen komplett beendet werden können. Für viele Bereiche gibt es heute schon tierversuchsfreie Methoden, etwa bei Tests auf Toxizität. Und trotzdem werden beispielsweise noch immer Chemikalien in Kaninchenaugen getropft, obwohl es dafür Alternativen gibt. Auch in vielen anderen Bereichen stehen Alternativen in den Startlöchern, in sogenannten Multi-Organ-Chips sehen wir ein massives Potenzial, das es endlich konsequent zu fördern gilt. Um Tierversuche zu reduzieren und schnellstmöglich überflüssig zu machen, wollen wir eine nationale Ausstiegsstrategie mit konkreten Maßnahmenplänen sowie Zeit- und Zielvorgaben auflegen. Tierversuchsfreie Forschungsmethoden wollen wir finanziell deutlich stärker fördern. Außerdem muss tierleidfreie Forschung schneller anerkannt und zugelassen werden.“
Die FDP hatte das Thema Tierversuche in ihrem Wahlprogramm nicht thematisiert, antwortete auf den Wahlprüfstein lediglich, dass nach Auffassung der Partei ein vollständiger Verzicht auf Tierversuche in absehbarer Zukunft nicht gelingen wird.
Warum reicht die jetzige Strategie nicht aus?
Dass sowohl die SPD als auch die Grünen so deutlich das Thema Ausstiegskonzept in ihr Wahlprogramm aufgenommen hatten, ist ein großer Erfolg für die umfangreiche Arbeit, die diese Kampagne mit den zahlreichen Unterstützer-Vereinen zusammen in diesem Jahr geleistet hat.
Dass nach so vielversprechenden Ansätzen nun lediglich von einer Reduktion von Tierversuchen die Rede ist, enttäuscht maßlos. Eine Reduktion von Tierversuchen ist als selbstverständlich zu erachten, und ergibt sich bereits aus den Vorgaben des Tierschutzgesetzes. Schon die alte Bundesregierung beteuerte seit Jahren, dass alles unternommen werde, um die Anzahl der Tiere zu reduzieren. Trotzdem stagnieren die Tierversuchszahlen seit Jahren auf ähnlich hohem Niveau. Ein eindeutiger Beleg dafür, dass diese Strategie ganz offensichtlich nicht zielführend ist.
Daher darf die neue Regierung die alten Fehler nicht einfach weiter kultivieren, sondern muss neue Maßstäbe in Form eines Paradigmenwechsels setzen.
Dass die bisherigen Maßnahmen (nicht nur in Deutschland) ineffektiv und nicht ausreichend sind, deckt sich mit der Meinung des EU-Parlaments: Im September 2021 stimmten sage und schreibe 97% der insgesamt 687 Abgeordneten für einen konkreten Ausstiegsplan. Die Europäische Kommission wird damit aufgefordert, ein solches Ausstiegskonzept mit konkreten Daten und Zielen zu erarbeiten. Dass in den auf den Menschen fokussierten, neuen Forschungsmethoden die Zukunft liegt, scheint bei den so innovationsfreudigen und zukunftsorientierten Ampelpolitikern (noch) nicht angekommen zu sein.
Brief an neuen Landwirtschaftsminister
Die Promotion und der Support dieser neuen Technologien ist klar Teil der Regierungsaufgabe. Wir brauchen eine Politik, die den tierfreien Methoden die (finanziellen) Rahmenbedingungen gibt, die sie verdienen und brauchen. Dass parallel u.a. die Anzahl der Tierversuche drastisch reduziert werden muss, steht außer Frage. Auch wenn die zwei Sätze im Koalitionsprogramm enttäuschen: das dort beschriebene Szenario muss nicht das Ende der Fahnenstange sein.
SPD und Grüne stehen an sich einer Ausstiegsstrategie positiv gegenüber.
Daher kann auch in den neuen - grünen! – Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir durchaus große Hoffnung gesetzt werden – nicht nur, weil es nach 16 Jahren CDU und 4 Jahren Julia Klöckner nur besser werden kann. Die nächsten vier Jahre wird er das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) leiten, dem auch Tierversuche zugeordnet sind.
Direkt nach
Ernennung haben daher die federführenden Vereine der Kampagne (MfT und ÄgT)
einen Brief an Herrn Özdemir gerichtet mit Bitte um einen persönlichen Termin.
Dabei sollen nicht nur die inzwischen 133.000 Unterschriften übergeben werden,
die bis dato im Rahmen der Ausstiegs-Kampagne gesammelt wurden, sondern auch
die Möglichkeiten der tierfreien Methoden sowie das Konzept eines konkreten
Ausstiegsplans dargelegt werden.
Der Koalitionsvertrag trägt den Untertitel „Mehr Fortschritt wagen“. Wenn die neue Koalition diesem Leitsatz wirklich gerecht werden will, wird sie in Bezug auf Tierversuche nicht um ein Ausstiegskonzept herumkommen, welches einen klaren Paradigmenwechsel vorsieht. Selbst die FDP, die die Leitung des Ministeriums für Bildung und Forschung innehaben wird und die in ihrem Wahlprogramm Tierversuche nicht erwähnt, sollte sich damit anfreunden können: Die Partei bezeichnet sich selbst als Innovationspartei und möchte nicht mit Verboten aufwarten – dann kann sie doch die finanzielle Förderung von humanbasierter und damit innovativer und zukunftsfähiger Forschung und Wissenschaft voranbringen! 3D-gedruckte Gewebe, patientenspezifische Mini-Organe, an denen Ursachenforschung betrieben oder in Kombination mit anderen Mini-Organen auf einem Multi-Organ-Chip die Verträglichkeit neuer Medikamente getestet werden kann – mehr Fortschritt geht nicht. Wagen sie es auch?
30. November
2021
Dipl.-Biol.
Julia Radzwill