Bis dato wurden in der biomedizinischen In-vitro-Forschung hauptsächlich zweidimensionale Zellkulturen eingesetzt. Dabei handelt es sich um „unsterbliche“ Zelllinien, die eine flache Zellschicht bilden. Solch ein Modell ist von Aufbau und Funktion eines dreidimensionalen Organs weit entfernt. Zudem bestehen diese Zellkulturen nur aus einem bestimmten Zelltyp, während ein echtes Organ verschiedene Zelltypen mit spezialisierten Funktionen enthält. Ein weiterer Nachteil solcher Zelllinien ist, dass sie für die kontinuierliche Kultivierung im Labor entweder künstlich „unsterblich“ gemacht wurden oder von einem Tumor abstammen. Für die Kultivierung dieser Zellen wird dem Nährmedium fötales Kälberserum (FKS) zugesetzt. Das Serum wird aus dem Blut ungeborener Kälber gewonnen, was nicht nur ethisch bedenklich ist, sondern auch wissenschaftliche bzw. experimentelle Nachteile mit sich zieht (8).
Die modernen 3-dimensionalen Zellkultursysteme wie Organoide haben nicht nur zahlreiche Vorteile gegenüber der alt bekannten Zelllinien, sondern auch gegenüber Tierversuchen. Die Übertragbarkeit von Forschungsergebnissen aus tierexperimentellen Studien auf den Menschen ist unzureichend und wird zunehmend kritisch gesehen. Aus diesem Grund ist die Entwicklung und Etablierung humanbasierter In-vitro-Forschungsmodelle vor allem für die Testung von Medikamenten und die Erforschung humaner Krankheiten essentiell. Die humanbasierten In-vitro-Modelle wie Organoide haben zudem den einzigartigen Vorteil, dass sie eine personalisierte, also auf den einzelnen Menschen individuell zugeschnittene, Medizin ermöglichen.
Sowohl die molekularen Ursachen menschlicher Erkrankungen, als auch therapeutische Ansätze lassen sich mithilfe dreidimensionaler Zellmodelle wie der Organoide exzellent erforschen (13). Gehirnorganoide oder andere komplexe neuronale Zellmodelle wurden bereits aus Patienten gezüchtet, die an Alzheimer (14), Parkinson (15), Schizophrenie (16,17) und Autismus (17) oder Chorea Huntington (18) leiden. Bei neurologischen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer besteht eine besonders dringende Notwendigkeit, neue Modellsysteme zu etablieren, die auf menschlichen Zellen basieren, da die bisherige Forschung an hunderten „Tiermodellen“ bis heute keine zufriedenstellende Behandlung ermöglicht (19–21).
Unzureichende Wirksamkeit und inakzeptable Nebenwirkungen führen häufig dazu, dass Therapien abgebrochen werden müssen oder Medikamente sogar zurückgezogen werden. Als Krankheitsmodell sind dreidimensionale In-vitro-Modelle, die man aus Patienten züchtet, ideal geeignet, da sie humanrelevante Ergebnisse liefern. Anhand von Nervenzellen, die aus iPSCs von magersüchtigen Patientinnen kultiviert wurden, konnte ein Gen identifiziert werden, das im Zusammenhang mit Anorexia nervosa zu stehen scheint (22). Humane Gehirnorganoide werden auch für die Krebsforschung eingesetzt, indem sie mit menschlichen Tumorzellen versetzt werden, so dass sich in ihnen Gehirntumore entwickeln (23). Anhand dieses In-vitro-Modells können dann Wirkstoffe hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Effektivität getestet werden.
Da jeder Mensch und auch jeder Tumor anders auf eine bestimmte Behandlung reagiert, ist es ein großer Vorteil, dass iPSC-basierte In-vitro-Modelle eine personalisierte Medizin ermöglichen. Diese ist bereits in der klinischen Anwendung angekommen: In Absprache mit dem behandelnden Onkologen wird eine Tumor-Biopsie des Patienten ins Labor geschickt, aus der Tumor-Organoide („Mikrotumore“) gezüchtet werden. Daran können dann diverse Therapiemöglichkeiten getestet werden und die individuell am besten wirksamen Medikamente werden dem Patienten schließlich verabreicht (24) (Abb. 3). Die Mikrotumor-Technologie eignet sich auch für die Erforschung neuer Medikamente, deren Wirksamkeit in den Tumororganoiden analysiert werden kann (25,26). Die Entwicklung von Krebsmedikamenten in Tierversuchen birgt die Gefahr, dass die Ergebnisse nicht sicher auf den Menschen übertragbar sind. In Anbetracht der individuell unterschiedlichen Wirksamkeit beim Menschen bzgl. Effektivität und Nebenwirkungen von Krebsmedikamenten hat die personalisierte Krebstherapie ein enorm hohes Potenzial im Gegensatz zur Testung in artfremden Spezies wie Mäusen, in denen menschliche Tumore künstlich herangezüchtet werden (27).
Die Auswirkung der eingeleiteten Substanzen auf die einzelnen Organe kann untersucht werden, indem die Organmodelle vom Chip entnommen und analysiert werden. Auch der Abbau eines Wirkstoffs kann durch Analyse der entnommenen Proben aus dem Mikrokanal-System verfolgt werden (pharmakokinetische Untersuchungen). Das bekannte Schmerzmittel Diclofenac wurde beispielsweise im MOC getestet, und Verteilung und Abbau spiegeln in den Organmodellen und im Durchfluss-System die Verstoffwechselung des Medikaments im menschlichen Körper wider (34). In den Chip sind Komponenten wie eine Mikropumpe oder ph- und Sauerstoffsensoren integriert, die es ermöglichen, Blutdruck und Puls zu simulieren (35). Je nach wissenschaftlicher Fragestellung werden unterschiedliche und unterschiedlich viele Organe auf dem Chip platziert. So enthält ein MOC zur Erforschung von Diabetes ein Bauchspeicheldrüsen-Modell, sowie insulin-sensitive Organe wie Leber oder Muskel (36), während für die Erforschung von Fettleibigkeit Leber, Fettgewebe und ein Blutgefäß-Modell eingesetzt werden (37).
Die NASA finanziert ein Forschungsprogramm, bei dem MOCs mit modernen menschlichen Zellkultursystemen zum ISS National Lab, einem Labor auf der ISS-Raumstation, geflogen werden (38). Die MOCs, die im ISS-Labor im Weltraum getestet werden, simulieren beispielsweise ein humanes Immunsystem bestehend aus Immun-, Knochenmarks- und Blutgefäßzellen. Die Chips werden zwei Wochen lang im All getestet und anschließend eingefroren, um sie zu konservieren und nach ihrer Rückkehr zur Erde verschiedenen Analysen zu unterziehen. Man möchte auf diese Weise herausfinden, wie sich der Aufenthalt im Weltall auf den Alterungsprozess des menschliche Immunsystem auswirkt, um daraus Rückschlüsse auf die körpereigenen Reparaturmechanismen zu ziehen. Des Weiteren wird ein Nieren-Chip zum ISS-Labor geschickt, sowie Knochen- und Knorpel-Chips und ein Chip, der die Blut-Hirn-Schranke abbildet. Für die Entzündungsforschung folgt noch ein Chip, auf dem Lunge und Knochenmark miteinander verbunden sind.
Hochrelevant sind auch In-silico-Verfahren, die in den letzten Jahren entwickelt wurden, um die Wirksamkeit und Giftigkeit von Substanzen im menschlichen Organismus vorherzusagen. Diese Computerprogramme haben nachgewiesenermaßen eine bessere Vorhersagekraft im Vergleich zu Tierversuchen (5–7). Derartige In-silico-Verfahren wie QSAR- (Quantitative Structure-Activity Relationship) oder PBKD- (Physiologically Based Kinetic and Dynamic) Modelle sind von der europäischen Institution ECVAM und der weltweiten OECD bereits validiert und als Alternative zu Tierversuchen im regulatorischen Bereich akzeptiert (39).
Bildgebende Verfahren gibt es schon seit vielen Jahrzehnten und sie werden stetig weiterentwickelt und optimiert. Relevante Erkenntnisse für den Bereich der humanmedizinischen Grundlagenforschung lassen sich an menschlichen Patienten auf diese Weise direkt gewinnen. Hierzu zählen beispielsweise die Computertomografie und andere tomografische Verfahren (40,41). Dabei werden Organe als dreidimensionales Gesamtbild dargestellt. In der Hirnforschung können so einzelne Bereiche des menschlichen Gehirns während bestimmter Hirnleistungen bildlich dargestellt werden. Aktive Hirnzellen lassen sich identifizieren, während sich eine Versuchsperson Bilder oder Wörter einprägt oder andere Aufgaben durchführt. Diese Methode ist auch zur Untersuchung neurologischer Erkrankungen und zur Diagnose von Gehirntumoren geeignet.
Wertvolle Forschungserkenntnisse lassen sich auch mithilfe epidemiologischer Studien (Bevölkerungsstudien) gewinnen, also Untersuchungen an Gruppen von Menschen. Auf diese Weise können die Zusammenhänge zwischen bestimmten Krankheiten und dem Lebensstil sowie den Lebensumständen von Menschen, wie Ernährung, Gewohnheiten und Arbeit, aufgedeckt werden. Insbesondere die Kombination aus epidemiologischen und epigenetischen (die Art und Weise, wie Gene abgelesen werden) Analysen ist ein Forschungsfeld, das sich rasant entwickelt und sehr wertvolle Erkenntnisse für die menschliche Gesundheit liefert (42,43). Aufgrund der Ergebnisse aus epidemiologischen Untersuchungen können wichtige vorbeugende Maßnahmen abgeleitet werden. So wurden auch die krebserregenden Eigenschaften von Tabakrauch und Asbest erkannt. Fleisch- und fettreiche Ernährung, Bewegungsmangel sowie psychosoziale Faktoren konnten aufgrund von Bevölkerungsstudien als Hauptursachen für Diabetes, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt und Arteriosklerose identifiziert werden.
Der Gebrauch von FKS (fötales Kälberserum), insbesondere als Zusatz in Nährmedien für die Kultivierung von Zellen, ist immer noch sehr verbreitet. Zur Gewinnung des Blutserums wird beim Schlachtvorgang schwangeren Kühen das ungeborene Kalb herausgeschnitten. Dem noch lebenden Kalb wird eine dicke Nadel ins Herz gestochen und das Blut vollständig abgesaugt, bis das Tier durch den Blutentzug stirbt. Die Prozedur geschieht ohne Betäubung, obwohl man heute weiß, dass Föten bereits leidensfähig sind. Die Verwendung von FKS ist aus ethischen Gründen abzulehnen und birgt auch wissenschaftliche und experimentelle Nachteile.
Seit Jahren gibt es bereits tierfreie Seren für die Zellkultur, wie das humanes Blutplättchenlysat (hPL), das als „Abfallprodukt“ von Blutspenden gewonnen wird, so dass es praktisch unbegrenzt verfügbar ist (44). hPL enthält Wachstumsfaktoren und Hormone menschlichen Ursprungs, so dass für die Kultivierung menschlicher Zellen deutlich natürlichere Bedingungen in vitro geschaffen werden als in Gegenwart von FKS, in dem alle wirksamen Komponenten tierischen Ursprungs sind (Rind). Es ist vielfach gezeigt worden, dass menschliche Zellen in Kultur ihre Organ-spezifischen Eigenschaften besser ausprägen, wenn sie mit tierfreien Seren gezüchtet werden als unter Einsatz von FKS (8). Der primäre Grund, warum FKS trotz allem noch verwendet wird, ist, dass sich die Versuchsergebnisse besser mit vorangegangenen veröffentlichten Experimenten vergleichen lassen, in denen ebenfalls FKS verwendet wurde. Dies ist nötig, um die eigenen experimentellen Daten publizieren zu können. Es sind also hauptsächlich strategische Gründe und Gewohnheit, die dazu führen, dass weiterhin FKS eingesetzt wird. Dabei erfordert die Umstellung von FKS auf tierfreie Seren wie hPL einen überschaubaren Etablierungsaufwand, der in keinem Verhältnis zu den experimentellen und ethischen Vorteilen steht. Humane Organoide und ähnliche 3-dimensionale Zellkultursysteme werden in der Regel ohne FKS kultiviert, da dieses hinderlich für die Ausprägung Organ-ähnlicher Eigenschaften ist.
Klar ist: Auch die innovativen Modelle wie Organoide, MOCs und Computersimulationen haben ihre Grenzen. Klar ist aber ebenfalls: Grenzen haben Tierversuche noch mehr. Der Unterschied: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Limitierungen der jungen humanbasierten In-vitro- und In-silico-Technologien in den kommenden Jahren zunehmend überwunden werden, so dass menschliche Erkrankungen und die Reaktion des Körpers auf Fremdstoffe bestmöglich simuliert werden können. Aktuelle Weiterentwicklungen im Bereich der humanen Organmodelle beinhalten u.a. die Integration eines menschlichen Immunsystems, der Blutgefäße, sowie des Bindegewebes (45). Eine relevante Optimierung der Tierversuche hingegen ist nicht in Aussicht und auch nicht vorstellbar, denn es handelt sich nun mal um Forschung in einer anderen Spezies, die sich vom Menschen stark unterscheidet. Dafür haben Millionen von Jahren der Evolution gesorgt und daran wird der Mensch auch nichts ändern können, selbst wenn mittels moderner gentechnischer Verfahren wie CRISPR/Cas9 reihenweise „humanisierte Mausmodelle“ durch das Einführen menschlichen Erbguts in das tierische Genom erschaffen werden. Tierversuche gibt es seit weit über 100 Jahren und neue „Tiermodelle“ werden mit immer höherer Geschwindigkeit erschaffen. Für die Alzheimer-Forschung gibt es 188 verschiedene „Tiermodelle“ (46) - nur bezogen auf Mäuse und Ratten - und trotz allem gibt es bis heute keine wirksamen Medikamente und die Krankheit ist bei Weitem nicht aufgeklärt (16). Ineffizienter kann man sich ein Testsystem nicht vorstellen und die Erschaffung weiterer „Tiermodelle“ würde an dieser Tatsache nichts ändern.
Was sich zunächst ändern muss, ist das Ungleichgewicht bei der finanziellen Förderung. Unseren Schätzungen zufolge fließen hierzulande unter 1 % der staatlichen Forschungsgelder in die Förderung tierversuchsfreier Methoden, während über 99% der Gelder in Forschungsprojekte investiert werden, die Tierversuche beinhalten (47). Dieses Ungleichgewicht gilt es zu ändern, denn wenn man ein System vorantreiben will und ein anderes zurückfahren, muss das finanzielle Gleichgewicht geändert werden. Beispielsweise ist dies in den USA der Fall, wo bis 2035 Tierversuche für Giftigkeitsprüfungen abgeschaffte werden sollen. In den nächsten Jahren wird sukzessive die finanzielle Förderung von Tierversuchen reduziert und tierversuchsfreie Verfahren verstärkt gefördert (48). Zahlreiche MOCs-Systeme werden bereits seit Langem von der FDA, der Lebensmittelüberwachungs- und Arzneimittelbehörde der USA, für gesetzlich vorgeschriebene Anwendungsbereiche umfangreich getestet (49). Auch die Niederlande haben sich zum Ziel gesetzt, Tierversuche für die Sicherheitsprüfungen von Medikamenten, Chemikalien etc. abzuschaffen, und zwar bis zum Jahr 2025 (50). Dort schreitet die Entwicklung der tierversuchsfreien Methoden ebenfalls rasant voran. Und Deutschland? Deutschland steckt fest im archaischen Dogma der Tierversuche, getrieben von Interessensvertretern, die viel Geld damit verdienen oder deren persönliche Forscherkarrieren davon abhängen. Es ist ein System, das sich selbst erhält. Damit sich daran etwas ändert, müssen Gesetzgeber und Behörden einen konkreten Plan zur Abschaffung der gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuche ausarbeiten. Denn auch, wenn befangene Wissenschaftler der Öffentlichkeit suggerieren wollen, dass ohne Tierversuche keine menschliche Sicherheit und kein medizinischer Fortschritt möglich wäre, so häufen sich die wissenschaftlichen Belege, dass dies einfach nicht stimmt - dass es bessere Methoden gibt als den Tierversuch, und das bereits heute. Immer mehr Studien zeigen zudem auf, dass die modernen humanbasierten Forschungsmodelle nicht nur wissenschaftliche, sondern auch deutliche wirtschaftliche Vorteile gegenüber Tierversuchen haben (51,52).
Andere Länder machen es uns vor und Deutschland sollte nicht Schlusslicht bleiben, wenn es um Zukunft und Innovation geht, nur, weil der Lobbyismus wieder einmal siegt. Auf gesetzlich vorgeschriebene Tierversuche entfallen hierzulande allerdings nur etwa ein Viertel der für Versuchszwecke eingesetzten Tiere (53). Etwa die Hälfte geht auf Kosten der Grundlagenforschung, die bekanntermaßen nicht das Ziel hat, eine biomedizinische oder sonstige Anwendung beim Menschen zu fokussieren. Diese Tierversuche abzuschaffen und tierversuchsfreie Methoden zu implementieren, wird eine schwierigere Aufgabe als im regulatorischen Sektor. Daher braucht es ein gesetzliches Verbot von Tierversuchen und effektive Anreize für akademische Wissenschaftler und insbesondere den wissenschaftlichen Nachwuchs, von den „Tiermodellen“ abzulassen und die modernen humanbasierten Verfahren zu nutzen. Diese sind mittlerweile so vielfältig, dass es für jeden Fachbereich möglich ist, geeignete tierversuchsfreie Verfahren einzusetzen - wenn denn der Wille da ist.