Vorbilder

Gleichbleibend hohe Tierversuchszahlen, nur 0,75% der Tierversuchsanträge werden abgelehnt, weniger als 1% der Fördergelder fließt in tierfreie Forschung – obwohl die Bundesregierung seit Jahren behauptet, alles dafür zu tun, dass weniger Tiere in Laboren leiden müssen. Andere Länder und auch die EU zeigen mehr Einsatz: Sie legen Konzepte vor, wie ein Ausstieg aus dem System Tierversuch gelingen kann.

Niederlande (2016)

Zunächst Beendigung der regulatorischen (gesetzlich vorgeschriebenen) Tierversuche (Medizinprodukte, Chemikalien, usw.). 10-Jahres-Plan für alle Forschungszweige, die ihre jeweiligen speziellen Anforderungen haben (z.B. Grundlagenforschung). Internationale Vernetzung & multidisziplinäre Kollaborationen, nachträgliche Effizienzbewertung von Tierversuchen, schnellere Validierung tierversuchsfreier Methoden.

 

USA (2020)

Der aktualisierte Plan der US-Umweltbehörde EPA sieht für 2022 bis 2024 u.a. die Aufnahme der tierfreien Methoden in die Regulatorik sowie die Entwicklung von tierfreien Methoden für wichtige wissenschaftliche Gebiete vor. Die Kommunikation mit Stakeholdern wird ebenso vorangetrieben wie auch die regelmäßige Überwachung der Fortschritte. Im Dezember 2022 unterzeichnete Präsident Biden ein Gesetz im Rahmen des Modernization Act 2.0, welches ermöglicht, dass mit ausschließlich humanbasierten Daten - ohne Tierversuche, sondern mit u.a. Multi-Organ-Chips – die Zulassung zu klinischen Studien erreicht werden kann. Somit könnten komplett tierversuchsfreie Medikamente entwickelt werden.

Großbritannien (2015 & 2020)

Die UK Roadmap sieht eine schnellere Entdeckung und Entwicklung von Medikamenten, (Agro-) Chemikalien usw. mittels tierfreier Methoden vor. Finanzielle Investition in tierfreie Methoden sowie (inter-)nationale Netzwerke, Kollaborationen und interdisziplinärer Austausch sind wichtig. Die Alliance for Human Relevant Science sieht zusätzlich in ihrem Konzept methodisches Training für Wissenschaftler sowie regulatorische Änderungen als nötig an.

Norwegen (2020)

Der Nationale Ausschuss für Versuchstiere empfiehlt dem Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung, dass auf der Basis des Niederlande-Konzepts ein Ausstiegsplan für Norwegen entwickelt und zudem ein (bisher dort noch nicht existierendes) 3R-Zentrums eingerichtet werden soll.

Schweden (2021)

Schweden kann Weltführer auf dem Gebiet der tierversuchsfreien Forschung werden, heißt es in einem Zukunftsplan der schwedischen Regierung. Kurz darauf gibt das Karolinska-Instituts ein Diskussionspapier heraus, das auf einen Paradigmenwechsel, d.h. nicht 1:1 Ersatz, sondern Etablierung verschiedener tierfreier Verfahren, abzielt. Tierversuch ist nicht länger Goldstandard.

Europäische Union (2021)

Mit 97% der Stimmen hat das EU-Parlament eine Resolution verabschiedet, die die EU-Kommission auffordert, einen Aktionsplan vorzulegen, wie ein Ausstieg aus dem Tierversuch gelingen kann. Dieser soll konkrete Maßnahmen und Zielvorgaben enthalten, um Fortschritte beim Ersatz von Tierversuchen durch tierfreie Methoden zu erzielen. 

Quellen >>

Interview mit Dr. Koëter:

„Wir glauben fest daran, dass der Ausstieg machbar ist!"

Der Toxikologe und Pathologe Dr. Herman Koëter ist Vorsitzender des niederländischen nationalen Komitees für den Schutz von Tieren (1), die für wissenschaftliche Zwecke verwendet werden. Als ausgewiesener Experte für Chemikaliensicherheit arbeitete er für die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und war Mitbegründer und wissenschaftlicher Direktor bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA). Die Fortentwicklung tierversuchsfreier Technologien war ihm schon immer ein Anliegen. 1982 erhielt er ein Forschungsstipendium, um eine tierversuchsfreie Methode für den Augenreizungstest am Kaninchen zu entwickeln. Er gründete und leitete die Europäische Forschergruppe für Alternativen in der Toxizitätstestung (ERGATT) und ist Beiratsmitglied des Zentrums der Johns Hopkins University für Alternativen zu Tierversuch in Baltimore. 2018 sprach tierrechte mit ihm über den ambitionierten niederländischen Abbauplan für Tierversuche.

„Tierversuche für Regulatorische Sicherheitstest für Chemikalien, Lebensmittelzusätze, Pestizide und Tier- und Humanmedizinprodukte können unter Einhaltung des gleichen Sicherheitsniveaus bis 2025 beendet werden. (NCad-Bericht S.17).“

 

Herr Dr. Koëter, könnten Sie uns bitte erläutern, wie Sie das Ende der Tierversuche für regulatorische Sicherheitstests bis 2025 in den Niederlanden erreichen wollen?

In unserem Beratungsbericht stellen wir fest, dass es tatsächlich möglich sein sollte, die Tierversuche im Bereich der gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsprüfungen bis 2025 auslaufen zu lassen, sofern alle an der Sicherheitsbewertung von Chemikalien zuständig sind, das Programm sowohl politisch als auch finanziell unterstützen. Wir sind uns bewusst, dass dies ein ehrgeiziger und bisher beispielloser Plan ist. Aber wir glauben fest daran, dass es machbar ist. Die Umsetzung wird allerdings weder einfach noch unkompliziert und sie erfordert gemeinsame Anstrengungen, sowohl der europäischen Mitgliedsstaaten als auch der Regulierungsbehörden. Wir in den Niederlanden sind wir mehr als bereit, unseren Anteil dabei zu leisten.

Welche Anzeichen gibt es für die Annahme, dass die Entwicklungen von Organ-ähnlichen Systemen wie Leber und Niere bis 2025 soweit fortgeschritten sind, dass sie zuverlässig und aussagekräftig die Originalorgane des Menschen repräsentieren können?

In Anbetracht des rasanten Tempos, mit dem sich diese Technologie in den letzten zehn Jahren entwickelt hat und im Hinblick auf ihre tatsächliche Anwendung für spezifische Forschungszwecke glaubt NCad, dass diese tierfreien Innovationen in der Tat sehr vielversprechend sind. NCad ist der Meinung, dass die vielen neuen Methoden für sich gesehen nur geringfügig zur Sicherheitsbewertung von Chemikalien beitragen, erst in der Kombination können sie das ganze Bild darstellen. Die Lösung liegt also nicht in einem Eins-zu-eins-Ersatz, sondern in einem Gesamtübergang von verschiedenen innovativen und tierfreien Methoden, rechnerischen Ansätzen und menschlichen Daten. Es wird also nicht eine einzige Technologie alle möglichen Fragen beantworten können. Es gibt ja auch kein Tiermodell, das alle Forschungsfragen zuverlässig beantworten kann.
 

In Organ- oder Human-on-a-Chip-Systemen haben die Organähnlichen Systeme bisher keinen unmittelbaren Kontakt untereinander. Der Kontakt ist jedoch wichtig für die Stimulation beispielsweise der Hormone innerhalb eines Organs. Bislang ist nicht klar, ob der fehlende Organkontakt die Eigenschaften der Organoide zur Untersuchung der Toxizität beeinflusst. Wie beurteilen Sie dies?

Es stimmt, dass Organ-Interaktionen und Kommunikation auf einem Chip noch nicht verfügbar sind. Aber vor drei Jahren gab es noch nicht einmal Organe auf einem Chip!
In Anbetracht der Geschwindigkeit des Fortschritts in diesem Bereich, vertrauen wir darauf, dass innerhalb von zehn Jahren alle Stücke des Puzzles verfügbar sein werden. Und sie werden darüber hinaus bessere Daten für die Sicherheitsprüfung liefern, als es bei den aktuell durchgeführten Tierversuchen der Fall ist.

Organoide Systeme haben bisher keine Blutgefäße. Wie beurteilen Sie die Entwicklungschancen bis 2025?

Anstatt sich auf spezifische Gewebe oder Organkombinationen zu fokussieren, konzentrieren wir uns bei der Sicherheit von Chemikalien auf die Beantwortung der wissenschaftlichen Fragestellungen. Gegebenenfalls können humane Daten und menschliches Material dazu beitragen, die Fragen zu beantworten.

Viele Zellsysteme haben nur eine begrenzte Lebensdauer. Bisher können sie 28 Tage, jedoch keine 90 Tage genutzt werden. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse haben Sie, ob die Entwicklung einer längeren Nutzungsdauer bis 2025 möglich sein wird?

Wir wissen heute noch nicht genau, was in zehn Jahren benötigt wird. Vieles hängt von den physikalischen und chemischen Eigenschaften der zu testenden Chemikalie sowie von QSAR (2) und 3-D Vorhersagen (3) ab.

„Tierversuche zu regulatorischen Zwecken für die Vermarktung von biologischen Produkten (Chargenprüfungen) für biologische Produkte wie Vakzine können unter Einhaltung des gleichen Sicherheitsniveaus bis 2025 beendet werden. (NCad-Bericht S.18).“

 

Könnten Sie bitte erläutern, wie der schrittweise Ausstieg aus dem Tierversuch im Bereich der Sicherheitstests für biologische Produkte wie Impfstoffe bis 2025 möglich sein wird?

Obwohl es sich dabei um unterschiedliche Konzepte handelt, gilt für vac2vac (Zusammenschluss von 20 Einrichtungen zur Entwicklung und Validierung von tierversuchsfreien Verfahren für Human- und Tierarzneimittel) der gleiche Ansatz wie bei den Sicherheitstests für chemische Substanzen: Ein Gesamtübergang zu innovativen Technologien.

„Im Bereich der wissenschaftlichen Grundlagenforschung ist die Reduktion oder Ausstieg aus der Nutzung von Tieren in allen Forschungsbereichen kurzfristig nicht realistisch. (NCad-Bericht S.18-19).“

 

Tierversuche in der erkenntnisorientierten und anwendungsoffenen Grundlagenforschung können nach Ihrer Einschätzung bis 2025 nicht beendet werden. Hier wollen Sie mit bereichsspezifischen zehn Jahresplänen arbeiten. Wer wird diese zehn-Jahres-Einzelpläne erarbeiten und bis wann sollen sie erstellt werden?

Der Beratungsbericht über den Übergang zur tierversuchsfreien Forschung wurde im Dezember 2016 veröffentlicht. Der niederländische Wirtschaftsminister, dem dieser Bericht übermittelt wurde, wird die Bildung von Untergruppen unterstützen, die realistische Forschungsziele in der erkenntnisorientierten und anwendungsoffenen Grundlagenforschung für die nächsten zehn Jahre festlegen sollen. Wir beabsichtigen, dass diese tierversuchsfreien Forschungsziele veröffentlicht und der Fortschritt überwacht wird. In jedem dieser Bereiche wird der internationale Kontext berücksichtigt.

Die Tierversuche in der angewandten und translationalen Forschung können Ihrer Ansicht nach bis 2025 nicht eingestellt werden. Aber die Entwicklung von Replace-Methoden (Ersatz) kann beschleunigt werden, auch dadurch, dass mehr auf humanspezifische Modelle und weniger auf Tiermodelle gesetzt wird. Die Niederlande wollen hier international führend werden. Mit welchen Maßnahmen kann die Entwicklung von Replace-Methoden beschleunigt werden?

Hier muss noch viel geforscht werden. Damit dies gelingt, muss mehr Forschungsförderung fließen. Wir sehen hier nicht nur die Regierung in der Pflicht, sondern auch andere Stakeholder, wie Tierschutzorganisationen und NGOs aus dem Bereich Umwelt-, Gesundheit- und Verbraucherschutz.

„Durch die Fokussierung auf tierfreie Praktiken und die aktive Reflexion über den Einsatz von Labortieren im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung kann der Einsatz von Labortieren deutlich reduziert werden. (NCad-Bericht S.19).“

 

Was genau werden die Niederlande unternehmen und wie soll der Rückgang des Tierverbrauchs in der Aus-, Fort- und Weiterbildung ermittelt werden?

Die zuständigen Fachbereiche für die Hochschulausbildung in den Niederlanden werden aufgefordert, eine Vision bezüglich der tierverbrauchsfreien Innovationen für die nächsten zehn Jahre zu erstellen. In diesem Bereich hat sich in den letzten Jahrzehnten bereits viel getan. Der Tierverbrauch in der Ausbildung wurde durch Computermodelle, Lehrvideos und Dummys ersetzt. Bei der Ausbildung der nächsten Generation von Forschern und Lehrern ist es sehr wichtig, dass die kritische Reflexion über die Verwendung von Tieren aktiv in die Curricula einbezogen wird.

Der NCad- Bericht definiert konkret, welche Voraussetzungen im Sinne einer Gesamtstrategie gegeben sein müssen, damit der Ausstiegsplan gelingen kann. Welche dieser wichtigen Strategiemittel sind bereits vorhanden, welche müssen noch geschaffen werden?

Alle diese Mittel wurden bereits oder werden derzeit umgesetzt. Der Schwerpunkt sollte auch auf den Austausch von Wissen, Transparenz und der internationalen Zusammenarbeit liegen.

Eine Management-AG soll eine Auflistung der neu zu entwickelnden Replace-Methoden erstellen. Bis wann soll dies erfolgen?

Die Erstellung dieser Agenda wird voraussichtlich einige Monate nach der Aufstellung der neuen Regierung erfolgen.

Die Niederlande wollen international eine Führungsrolle bei der Entwicklung von Replace-Verfahren übernehmen. Weshalb ist dies lohnenswert für die Niederlande und warum haben sie eine gute Startposition für diese Aufgabe?

Das Ziel, hier eine führende Rolle zu übernehmen, entspringt dem Ehrgeiz, Veränderungen einzuleiten und so zu einer Verbesserung der Situation beizutragen. Wir wollen den Übergang beschleunigen. Die Ausgangsituation in den Niederlanden ist günstig, weil der Landwirtschaftsminister, der für den Bereich Tierschutz verantwortlich ist, diesem Thema sehr zugetan ist.

Wann beginnen Sie mit der Umsetzung? Müssen Regierung und Parlament der Planung noch zustimmen?

Die Umsetzung hat bereits begonnen. Die Bereitschaft, Regeln und Vorschriften für regulatorische Tierversuche zu verfeinern, wächst. Der Wert der Daten aus der tierexperimentellen Forschung wird zunehmend in Frage gestellt. Jetzt scheint der richtige Zeitpunkt zu sein, um den nächsten gewagten Schritt einzuleiten, um den Übergang hin zu einer tierversuchsfreien Forschung zu beschleunigen.

Quellen

(1) Nationales Komitee für den Schutz von Tieren (NCad): Jeder EU-Mitgliedstatt muss dieses Gremium einrichten. Das legt die EU-Tierversuchsrichtlinie 2010/63/EU in Artikel 49 fest und weist darauf im Erwägungsgrund 48 hin. In Deutschland heißt dieses Gremium Nationaler Ausschuss. Die Gremien wurden 2014 eingerichtet.
(2) QSAR = Quantitative Struktur-Wirkungs-Beziehung. QSAR beschreibt die quantitative Beziehung zwischen der chemischen Struktur eines Moleküls und seiner pharmakologischen, chemischen, biologischen, physikalischen Wirkung.
(3) Die dreidimensionale (räumliche) Struktur von Biomolekülen (Proteine, DNS oder RNS) bestimmt die Funktion und damit die Giftigkeit. Dies machen sich Forscher in Computermodellen zunutze.

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